Es muss 1951 gewesen sein. Wir hatten ein Haus in einem Vorort von Hannover bezogen. Ein wahrer Glücksfall, sechs Jahre nach der Flucht aus Schlesien nun ein Haus mit einem großen Garten eigenen Zimmern für die Kinder, unvorstellbar nach der Enge zuvor. Und es war Weihnachten. Der Morgen des Heiligen Abends, für die Kinder die Stunde größter Ungeduld, für die Frau die Hetze letzter Vorbereitungen auf das große Fest. Sie musste noch einmal in die Stadt. Da lag frierend und mit bettelnden Augen ein völlig verhungerter Hund vor der Haustür. Er möchte ins Haus, fressen und trinken. Er wird eingelassen und bekommt, was er will, gierig, völlig verhungert stürzt er sich auf den Fressnapf, umringt von den Kindern. Sie wollen ihn behalten. Aber nun, zu drei Menschenkindern noch ein Hund, und noch dazu dieser, verdreckt, eine Mischung aus Terrier und Pudel, und wem ist er entlaufen? Außerdem muss meine Frau in die Stadt. So wird er wieder hinausgeführt. Aber er läuft mit, immer hinter der Frau, als gehöre er schon dazu, bis zur Haltestelle. Die Straßenbahn kommt, er will mit einsteigen. Er darf es nicht. Er bleibt zurück, ein Häufchen Elend, frierend und schmutzig.
Meine Frau ist wohl eine kleine Stunde in der Stadt geblieben. Aber als sie zurück mit den letzten Einkäufen aussteigt, sieht sie ihn wieder: Er hat diese Stunde gewartet, auf seine letzte Hoffnung: Dass er aufgenommen würde ins Warme und Menschliche. So kommen sie beide zusammen wieder an, jubelnd von den Kindern begrüßt. Der Vater wird gefragt: Ja, am Heiligen Abend müssen wir ihn wohl aufnehmen. Im Stall von Bethlehem war sicher auch ein Hund. Auf den alten Bildern ist er immer wieder zu sehen. Er sieht dem kleinen Heimatlosen sehr ähnlich.
So ist er geblieben. Er blieb 14 Jahre. Er war ein treuer Hund. Er zog mit uns nach Berlin und wurde der unbestrittene Herr der ganzer Straßen in Lichterfelde. Er zeugte unzählige Kinder. Noch heute sind sie in unzähligen Enkeln und Urenkeln zu erkennen, schwarzweiß, sehr preußisch. Er kämpfte mit allen Artgenossen, todesmutig. Er wartete Stunden vor den Gartentoren läufiger Hündinnen und fror einmal im Eis fast fest. Er war Liebling und Held, sehr robust, fast ordinär, aber zuverlässig und uns allen unbeirrbar zugetan. Er starb 1965. Er hieß Fips.
Wäre es nun nicht der Heilige Abend gewesen, damals in Westerfeld, hätten wir ihn je geschenkt bekommen?.

Diese Geschichte ist von Heinrich Albertz

Heinrich Albertz (* 22. Januar 1915 in Breslau; † 18. Mai 1993 in Bremen) war ein evangelischer Pastor und ein deutscher Politiker (SPD). Der Theologe war von 1966 bis 1967 Regierender Bürgermeister von Berlin.

Allen Bücherkisten-Freunden wünsche ich ein friedliches und entspanntes Weihnachtsfest.

Ecki